Wenn eine Gruppe Läufer aufbricht, um 42,195 km zu laufen, dann ist das nicht ungewöhnlich – sondern lediglich ein Marathon.
Wenn diese Läufer sich aber mitten in der Nacht treffen und – teilweise verkleidet – stundenlang Runden durch eine S-Bahn-Station drehen, dann ist daran nichts mehr gewöhnlich!
Die Tage zuvor
Mit einer Treppe in Tartanbahn-Optik in der S-Bahn-Station am Jungfernstieg fing alles an. Großflächigen Aufklebern warben dort für die Abstimmung zugunsten von Hamburg als Olympia-Austragungsort im Jahr 2024. „Hamburg 2024 – Das gibt’s nur einmal“ lautete der Slogan, der sich durch alle Werbekampagnen zog.
Diese Aufkleber entdeckte auch Christian Hottas, der mit seinen „Fun & Erlebnis Marathons“ schon zuvor für ungewöhnliche Läufe gesorgt hatte. Für ihn war wohl schnell klar, dass diese S-Bahn-Station der Austragungsort seines nächsten Marathons werden sollte, denn nur wenige Tage nach dem Anbringen der Aufkleber erstellte er bei Facebook eine Veranstaltung: S-Bahn Hamburg 2024 Marathon
Im Nachhinein kann ich gar nicht mehr sagen, ob ich anfangs wirklich ernsthaft vorhatte, diesen Marathon zu laufen, als ich auf „Zusagen“ drückte. Alle Details hatte ich mir auf jeden Fall nicht gleich durchgelesen. Aber die Resonanz auf die Veranstaltung war großartig; die Zusagen stiegen stetig.
Nach und nach kamen alle Informationen zusammen. Eine Runde sollte 140 m lang sein, mit einem Treppenaufstieg beginnen, durch die sogenannte Rathauspassage führen und mit einem Treppenabstieg enden. Insgesamt 302 Runden wären für die 42,195 km notwendig; bei 34 Treppenstufen je Runde ergaben sich so insgesamt 10.268 Treppenstufen (1540 Höhenmetern) hoch und herunter.
Am 18. November 2015 war es dann soweit; die Ausschreibung und die Anmeldungen waren komplett und verfügbar. Und ich meldete mich an! Bereits 30 Startplätze waren vergeben.
Nur eine gute Woche Vorbereitungszeit, aber wie sollte man sich auch auf so einen Marathon vorbereiten? Viele Treppen laufen? Beine hochlegen? Der letzte Marathon davor in Berlin war grauenhaft gewesen. Ich hatte zwar meine Zielzeit erreicht, mich aber ab Kilometer 25 gequält. Elend war es gewesen! Und nun schon wieder ein Marathon?
Statt für Tapering entschied ich mich für lange Läufe als Vorbereitung. Drei schaffte ich in der kurzen Zeit, dann sollten drei Tage Ruhe folgen. Nun ja, absolute Ruhe liegt mir nicht… Zumindest meine Runde mit den Tide Runners wollte ich am Vortag des Marathons nicht ausfallen lassen. Allerdings wollte ich ausnahmsweise einmal die kurze Runde gehen (also den Ausstiegspunkt nach etwa der Hälfte der Strecke nehmen). Zu meiner große Überraschung gab es bei der Tour durch Veddel diesmal kein Ausstiegspunkt. Also zeigte meine GPS-Uhr 16,3 km an und das nur 11 Stunden vor dem Start des Marathons.
Der Lauf
Nach einem langen Arbeitstag war es dann soweit. Am 26. November um 21:50 Uhr erreichte ich stilecht mit den öffentlichen Verkehrsmitteln die Station Jungfernstieg. Vor dem Rathaus leuchteten die Weihnachtsmarktaufbauten.
Ich hatte noch genug Zeit meinen Beutel wegzupacken und kurzfristig zu entscheiden, doch noch eine Bekleidungsschicht mehr auszuziehen, denn so kalt war es dort unten nicht. Übrigens eine interessante Möglichkeit, einmal hinter die Kulissen der Station zu gucken, denn als Umkleide/Stauraum stellte die DB einen Betriebsraum zur Verfügung.
Die letzten Minuten vor dem Start nutze ich für einen Plausch mit erschienen Freunden und Laufkollegen unter den Zuschauer.
Um kurz nach 22:00 Uhr gab dann der Geschäftsführer der S-Bahn Hamburg GmbH, Kay Uwe Arnecke, den Lauf frei. Euphorisiert sprinteten die 43 erschienenen Starter das erste Mal die Treppen hinauf und keine Minute später wieder herunter. 140 Meter sind wirklich keine lange Strecke.
Während der erste Stunde prägte ich mir Details der Strecke ein, suchte Unregelmäßigkeiten in den Fliesen, las die Motivationen auf den Schaufenstern und lenkte mich mit einer Vielzahl Kleinigkeiten ab, um mich selbst mental zu manipulieren. Zahlreiche High-Fives und johlende Gäste machten es aber leicht, die Zeit zu vergessen.
Die Verpflegung war reichhaltig und jede Runde hätte man die Möglichkeit gehabt, kurz vom Rundkurs auszuscheren und einen Stop an den Tischen mit Cola, Wasser, Gummibärchen, Keksen und vielem mehr zu machen. Dort fand sich dann auch der Computer, an dem man seine eigene Rundenzahl überprüfen konnte. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie viele Runden noch fehlen. Diesen habe ich (ehrlicherweise) recht häufig genutzt, denn es fiel mir unglaublich schwer mitzuzählen.
Um Mitternacht dann eine unterhaltsame Unterbrechung, als der Geburtstag eines Läufers mit Kuchen gefeiert wurde.
Anschließend nahm ich mein Handy zur Hand, steckte mir Kopfhörer ins Ohr und begann ein Hörbuch zu hören: Das Bildnis des Dorian Gray. Eine entspannende Ablenkung, die nicht wie Musik das Lauftempo und die Schrittfrequenz beeinflusst und eine willkommene Ablenkung bei langen Läufen ist.
Als der Zähler dann 151 Runden und damit Halbzeit verkündete, schickte ich einmal ein paar Impressionen an Freunde, dann konzentrierte ich mich auf die zweite Hälfte. Im Vorfeld hatte ich noch überlegt, ob ich bei Schwierigkeiten einfach nach einem Halbmarathon aussteigen sollte. Aber es lief gut.
Nach einigen Stunden war den meisten Läufern die Anstrengung anzusehen. Die Geschwindigkeit schien nachzulassen und während initial die Treppen noch mit viel Elan genommen worden waren, wurden sie ab Stunde vier fast nur noch Schritt für Schritt gehend genommen.
Auf den weiteren Runden überholte ich nun noch häufiger andere Läufer und war überrascht, wie viele Starter ein Shirt des 100 Marathon Clubs trugen. Allerdings verstand ich nun auch, wie man auf 100 absolvierte Marathonläufe kommt, die Voraussetzung für die Aufnahme sind.
Trotz des schmerzfreien Laufens und der nicht einsetzenden Müdigkeit war ich froh, als der Ruf „noch eine Runde, Julian“ irgendwann kam. Die letzte Runde genoß ich wirklich noch einmal. Erst als ich die Medaille um den Hals hatte und mit dem alkoholfreien Weizen auf dem Boden saß, meldeten die Beine ihren Erschöpfungszustand zurück.
Ein kurzer Blick auf die Uhr. Es war 04:15 Uhr. In etwas mehr als drei Stunden würde mich der Wecker für die Arbeit rufen.
Rahmendaten
- 140m Rundkurs durch die Rathauspassage am Jungfernstieg in Hamburg
- 302 Runden
- Treppenstufen: 10268 Stufen (je Richtung)
- Maximal 50 Teilnehmer
- Verpflegung: ja
- Medaille: ja
- Urkunde: ja, online
- Umkleiden: ja
- Toiletten auf der Strecke: ja
- Kleiderbeutelabgabe: ja, nicht bewacht
- Gebühr: 25 Euro (Spende den gemeinnützigen Betreiber der Rathauspassage)
- Zeitmessung: Chip an der Startnummer
- Besonderheit: Indoor-Treppenlauf
Die Ausschreibung und die Ergebnisse findet ihr unter: http://my2.raceresult.com/18519/
- Schnellste Läuferin: Sonia Isabel Goebel in 5:58:09, die in dieser Woche auch genug Kilometer sammelte, um die Nike City Challenge zu gewinnen
- Schnellster Läufer: Toni Hecker in 5:28;15
- 7 Starter kamen nicht bis ins Ziel, konnten aber eine Halbmarathonwertung bekommen.
Ich selbst gönnte mir 6:14:34, allerdings hatte ich sowieso damit gerechnet, etwa 6 Stunden unterwegs zu sein.
Fazit
Neben der Unterstützung des Olympia-Referendums für Hamburg diente der Marathon auch einem guten Zweck: Das gesamte Startgeld wurde gespendet, an die gemeinnützige Organisation „passage gGmbH„, die bald schon zwanzig jahrelang die Rathauspassage als soziales Projekt betreibt.
Der Marathon in der S-Bahn Station war einmalig. Wortwörtlich, denn es wird keinen zweiten Marathon in der S-Bahn-Station geben. Wer es verpasst hat, muss aber nicht traurig sein. Christian Hottas veranstaltet nämlich noch weitere ungewöhnliche Marathons. Den nächsten am 17. Januar 2016. Dann geht es zum zweiten Mal durch den Hochbunker in der Müggenkampstraße 51 in Hamburg.
Die Läufer erwarten dort sechs Etagen und zwar 98 mal. Das sind dann insgesamt 7350 Treppenstufen. Details findet ihr hier: https://www.facebook.com/events/987561224608533/