Etwa ein Jahr ist es her, da ließen sich das Internet und die Helikopter-Eltern (einmal wieder) aufstacheln: Von einer Petition, die die Abschaffung der Bundesjugendspiele forderte, um das angeblich unvermeidliche Trauma an kindlichen Seelen zu verhindern, welches aus einem sportlichen Wettstreit resultieren müsse. Initiiert von einer verärgerten Mutter, deren unsportliches Kind nur eine Teilnehmerurkunde bei den Bundesjugendspielen erhielt und deshalb mit feuchten Augen nach Hause kam.
Über 21.000 digitale Unterschriften wurden gesammelt, auch wenn der magische 25.000-Meilenstein nicht geknackt wurde. Für Wochen hing das Thema wie ein digitaler Schatten über dem Netz – zumindest über meiner Timeline und den Webseiten, die ich las. Mit der Zeit spitzte sich das Thema zu und besorgte Eltern und Kolumnisten überschlugen sich mit ihren Forderungen:
- Die Sportarten der Bundesjugendspiele müssten zeitgemäßer werden, so wäre Kugelstoßen im 21. Jahrhundert nicht mehr überlebenswichtig.
- Die Bundesjugendspielen dürften nur dann Bestand haben, wenn die Teilnahme an diesen rein freiwillig wäre.
- Eine Benotung im Sport wäre unfair, auf Grund der unterschiedlichen körperlichen Voraussetzungen und müsste daher wegfallen.
- Sportlicher Wettstreit sei archaisch und müsse daher aus dem schulischen Kontext getilgt werden.
- Sport als Schulfach sollte abgeschafft werden, um Platz für relevantere Themen des Bildungskanons zu schaffen – insbesondere in Zeiten von G8.
Ich lehne mich jetzt einmal weit aus dem Fenster: Bei der Diskussion um die Bundesjugendspiele lag das Interesse oftmals nicht beim Wohlergehen der Kinder, sondern dem gekränktem Stolz der Eltern in ihrer Kindheit! Endlich fühlten sie sich in der Position, Rache für erlittene Schmach auf der Aschebahn zu üben.
Ja, etwa ein Jahr ist es her und längst war die Diskussion um dieses Thema in den Tiefen meiner Erinnerung verschüttet und hätte dort wohl irgendwann Platz gemacht, damit ich mir den Songtext eines kommenden Ohrwurms abspeichern könnte. Doch vor wenigen Tagen wurde ich im Bus von zwei empörten Müttern erneut unüberhörbar mit dem Thema „sportlicher Wettkampf im Schulumfeld“ konfrontierten, als deren keifende Stimmen wie ein verbaler Vertikutierer über das dichte Gras fuhren, das für mich über das Thema gewachsen war. Für niemanden zu überhören, prangerten sie den Schulsport als verordnetes Mobbing für ihre adipösen Kinder an, während sie entrüstet das Kalorienäquivalent einer Tagesration in Haribo-Produkten vernichteten.
Gezwungenermaßen lauschte ich; was blieb mir bei der Laustärke auch anderes übrig. Und so erfuhr ich, dass auch heute noch unzählige Eltern rebellieren, wenn ihre trägen Schützlinge Zeugnis über sportliches Können ablegen sollen. An einer (nicht weiter genannten) Schule würde die Eltern gerade dafür streiten, ihre Kinder vom erniedrigenden Sport zu befreien – notfalls mit allen Rechtsmitteln.
Mir stellt sich die Frage: Wirkt sich sportlicher Wettkampf wirklich so negativ auf Kinder aus und kann man ernsthaft Sport aus dem Lehrplan streichen wollen?
Schulsport ist essentieller denn je
Ich bin ehrlich: Ein großer Freund der Bundesjugendspiele war ich zu meiner Schulzeit auch nicht, und ich war damals ganz, ganz weit von einer Platzierung entfernt. Vielleicht habe ich Schulsport nicht gehasst, aber wurden die Mannschaftsteams im Sportunterricht gewählt, dann gehörte ich nicht zu ersten 50% die gewählt wurden und den Erfinder von Völkerball würde ich gerne mal verhauen. Hätte ich als Kind die Wahl gehabt, hätte ich mich wohl auch vor dem Sportunterricht gedrückt und außerdem die Bundesjugendspiele direkt abgeschafft. Und bei der Gelegenheit auch gleich die Fächer Erdkunde, Englisch, Musik, Religion und Latein. Doch zum Glück konnte ich das nicht. Von Erdkunde habe ich heute noch keine Ahnung, aber ich bin längst nicht mehr unsportlich und mein Englisch ist inzwischen fließend – aber ich musste viel dafür tun.
Auch wenn Herbert Grönemeyer sich dafür ausspricht, sind Kinder keine guten Entscheidungsträger und würden eine Welt aus Kandis, Cola und Konsolen schaffen. Selbst wenn Kinder dies noch nicht erkennen, ist sportliche Betätigung notwendig, auch und insbesondere für Kinder, die keine große Freude am Sport haben. Zahlreiche Statistiken zeigen die positiven Auswirkungen von Sport auf die kognitive Entwicklung von Kindern sowie resultierende bessere Schulnoten: Mens sana in corpore sano! Für viele Kinder ist der Schulsport die einzige ambitionierte Bewegung in der Woche und daher überfällig, wenn die körperliche Entwicklung heute vom Fernseh- und Konsolen-Konsum gehemmt wird. Woher soll da die Fähigkeit kommen, auf einen Baum zu klettern oder sich über die Kante einer Mauer ziehen zu können. Sind diese Fähigkeiten überlebensnotwendig? Vielleicht nicht, aber über die letzte Jahre greift Adipositas unter Kindern immer weiter um sich und seit Jahren beklagen Pädiater, dass Kinder keinen Purzelbaum mehr bewältigen, nicht mehr rückwärts laufen oder kein Rad schlagen können. Vor diesem Hintergrund muss ich mir vor Augen rufen, dass Laufen, Springen und Werfen zu den essentiellen Grundbewegungen gehören, die bei Kindern unbedingt gefördert und gefordert werden sollten.
Eine Konsole erreichte mich erst, als ich etwa 12 Jahre alt war; der eigene Fernseher noch viel später. So hatte ich in meiner Kindheit genug Bewegung neben dem Schulsport. Ich hatte noch das Glück, dass ich als Kind über Mauern geklettert, neben Eisenbahnschienen gelaufen, über selbstgebaute Brücken balanciert, von Spielhausdächern gerutscht und über Abgründe gesprungen bin. Über Jahre konnte meinen eigenen Körper kennengelernen, Bewegung spielerisch erfahren und mir aufgeschürfte Knie holen. Vielleicht würde ich den Purzelbaum auch heute noch schaffen – eventuell probiere ich das nachher einmal.
Leistungsdruck in der Schule
Tun wir Kindern nun einen Gefallen, wenn wir jeglichen sportlichen Wettkampf aus dem Schulumfeld tilgen, nur weil eben nicht jeder auf den ersten Platz kommen kann? Kann die Erinnerung an eigenen Frust in der Schulzeit ein guter Ratgeber sein, wenn es darum geht, über die Bedeutung von Sport in der Schule zu entscheiden?
- Würden wir auch eine Petition gegen den Mathe-Unterricht unterstützen, nur weil wir als Kind traumatisiert wurden, als wir als an der Tafel mussten, um eine Differentialgleichung zu lösen?
- Oder eine gegen den Musik-Unterricht, weil wir damals in der Pubertät eine Stimmbruch bekommen haben, der unsere Engelsstimme in eine nicht kontrollierbare Motörhead-Röhre verwandelte, sodass wir uns lieber in die letzte Reihe verkrümelten, um nur noch leise mitsingen zu müssen?
- Oder gegen Englisch als Fremdsprache, weil wir einmal beim Spicken in einem Vokabeltest erwischt wurden und mit einem demütigenden Eintrag zu unseren Eltern für eine Unterschrift mussten?
Sollen wir wirklich jeden Leistungsdruck aus den Schulen nehmen und wann kommen wir an eine Grenze? Irgendwann können wir auch Fußball auf dem Schulhof verbieten, alle Klausuren abschaffen, beim Tischtennis in der Pause darf nur noch unentschieden gespielt werden und niemand darf ein Bild in sein Panini-Sammelalbum kleben, das nicht auch jeder andere hat. Aldous Huxley kichert vermutlich gerade in seinem Grab.
Sind wir ehrlich, dann erkennen wir an, dass es neben dem Sport noch weiteren Leistungsdruck in den Schulen gibt und dass Wettstreit nichts Unnatürliches ist, sondern dass sich Kinder freiwillig im Wettstreit messen. Ja, natürlich ist es “nicht fair”, wenn dabei der Gegner körperlich im Vorteil ist – Sport bevorzugt mitunter Größere und Kräftigere. Aber hier imitiert der Sport nun mal das Leben: Auch bei einem Bewerbungsgespräch konkurriere ich mal mit einem Native Speaker mit fünf Jahren Auslandserfahrung oder beim Flirten mit einem 1,95m großen Anwalt. Wer jeglichen sportlichen Wettbewerb abschafft, nur um eventuellen Frust zu vermeiden, der nimmt Kindern auch die Chance zur Vorbereitung auf das Leben und das ist nun mal durch einen permanenter Wettkampf geprägt. Wer noch weiter geht und Sport ganz aus den Schulen verbannen will, der nimmt Kindern zudem zahlreiche Gelegenheiten sich für Sport begeistern zu lassen.
Ich verstehe, wenn man seine Kinder beschützen will… aber was für Menschen werden sie als Erwachsene sein, wenn sie sich niemals beweisen durften? Außerdem gehören Misserfolge zum Leben. Wie sollen Kinder lernen, mit Frust umzugehen, wenn sie keine Chance bekommen einmal zu scheitern. Einmal nicht der Beste zu sein, mag erst einmal enttäuschen, aber man bekommt die Chance sich aufzurappeln und sich für seine Ziele umso mehr ins Zeug zu legen.
Schulsport geht auch anders
Seitdem ich zu Schule gegangen bin, hat sich übrigens viel getan: Längst ist Schulsport nicht mal auf Leichtathletik beschränkt. An Hamburger Schulen haben beispielsweise Tennis, Rudern, Reiten, Golf, Karate und Judo ihren Platz gefunden und begeistern so schon in jungen Jahren. Etwas neidisch bin ich wohl, denn ich hätte gerne schon früher Kontakt zu mehr Sportarten bekommen.
Letzte Woche fand in Hamburg der Kids World Triathlon Hamburg statt: Der größter Schülertriathlon, bei dem rund 4.000 sportbegeisterte Kinder und Jugendliche aus über 100 Schulen teilnehmen. Am Hamburger Stadtparksee geht es nicht um die schnellste Zeit oder das Erklimmen des Siegertreppchens; der Fokus liegt auf dem Spaß, der Begeisterung für den Sport und dem Gedanken, dabei gewesen zu sein.
Ich konnte leider nicht lange beim Kids Tri Hamburg zuschauen, aber ich konnte unzählige leuchtende Augen entdecken, als die Teilnehmer zum ersten Mal in ihrem Leben vor jubelndem Publikum über eine Ziellinie liefen – auch wenn sie nicht die ersten im Ziel waren.
Eine Teilnehmerurkunde ist nichts schlechtes
Die Bundesjugendspiele sind vielleicht nicht die beste Sportveranstaltung, denn nicht jedem liegt Leichtathletik – aber deswegen muss der Schulsport im Ganzen noch lange nicht verteufelt werden. Und so wie Gedichtinterpretationen, die Geschichte des Römischen Reiches und der Dreisatz gehören auch die grundlegenden Bewegungsarten auf den Lehrplan von Schulen.
Ich kann leider auch nicht ausschließen, dass es im Rahmen von Wettkämpfen oder dem Schulsport zu Mobbing kommt. Mobbing gab es schon zu meiner Zeit an Schulen, aber dafür war auch schon damals der Sport nicht verantwortlich und fand nicht nur auf dem Grün statt, sondern auch auf dem Schulhof und in Klassenräumen. Nicht der Sport oder Wettkämpfe sind die Ursache, sondern grausame Kinder, die von ihren Eltern und Lehrern nicht in ihre Schranken gewiesen werden.
Seit 1991 bekommen übrigens alle Schüler, die weder eine Sieger- noch eine Ehrenurkunde erhalten, die oben erwähnte Teilnahmeurkunde. An seinen Schwächen kann man wachsen und der Attributionstheorie zum Trotz wird man nicht automatisch zum Nicht-Sportler, nur weil man einmal nicht auf dem Sieger-Treppchen landet. Warum eine Teilnahmeurkunde pauschal eine Demütigung sein soll, verstehe ich nicht. Es kommt wohl auf die Perspektive an. Wenn ich bei einem Halbmarathon oder Marathon starte, dann bekomme ich zum Schluss – neben einer Teilnehmer-Medaille – auch „nur“ eine Teilnahmeurkunde, auf der eventuell auch noch vermerkt ist, wie viele Hundert Läufer vor mir ins Ziel gekommen sind. Ich stand mit meinem Laufsport noch nie auf dem Treppchen und trotzdem sammle ich all diese Urkunden, Medaillen und meine Startnummern in einer Kiste. Jede einzelne legt Zeugnis darüber ab, dass andere schneller waren und trotzdem bin ich stolz. Weil ich gegen mich laufe und nicht gegen andere. Weil ich stolz auf mich bin, wenn ich mein Bestes gegeben habe.
Deine Meinung interessiert mich: Wie stehst Du zum Schulsport? Sollte man ihn abschaffen oder fördern? In Wettkämpfen austragen oder lieber spielerisch vermitteln?
2 Kommentare
Toller Beitrag! Teile deine Meinung vollkommen. Ich habe immer gerne Sport gemacht und durfte gar zweimal mit unserem 4er-Schüler-Team den kantonalen Schulsporttag gewinnen (Leichtathletik, das pendant zum Bundessporttag nach meinem Verständnis). Dies, weil ich recht schnell laufen konnte. Dafür gehöre ich zu untaletiertesten Geräteturnern, in der Gymnastik habe ich zwei linke Beine und im Fussball sowieso. Da ist es für mich schon ein Erfolg, wenn ich den Ball treffe. Kurz gesagt: ich gehöre normalerweise nicht zu den Siegern. Mitmachen war für mich meist das wichtigste. Und ist es auch heute noch.
Ich wurde aber immer motiviert dazu, mitzumachen. Auch wenn ich mal keine Medaille gewann. Das war ganz einfach Teil meiner Erziehung. Sowohl von den Eltern, den älteren Geschwistern aber auch in der Schule oder im Turnverein.
Nur leider braucht das von allen Beteiligten etwas mehr Mühe und Aufwand, als einfach abzuschaffen, was man nicht lässig findet. Aber was gibt man da dem Kind oder Jugendlichen mit auf den Weg durchs Leben? Wenn man immer nur den einfachsten (oder gar faulsten) Weg wählt?
Ich hoffe sehr, dass auch mein Sohn mal an einem Schulsporttag teilnehmen kann. Wenn er dies noch mit Freude tut, freue ich mich erst recht.
Lg Stefan
Toller Artikel, super geschrieben! Als Italienerin kann ich zu den Bundesjugendspielen nichts sagen, allerdings habe ich Schulsport auch immer gehasst. Unsere Lehrer waren überwiegend zum Vergessen und faire Bewertungen sehen anders aus. Ich bin inzwischen 25 und seit etwa 1,5 Jahren habe ich endlich so richtig Freude am Sport gefunden. Die meisten Jugendlichen, besonders Mädchen, sind wenig für Schulsport zu begeistern und drücken sich mit allen Mitteln vor der Teilnahme. Als angehende Pädagogin kann ich deinen Aussagen zum Thema Schule und Sport nur zustimmen und möchte dem noch eine Studie hinzufügen. Habe das Buch leider nicht zur Hand und weiß deswegen nicht von wem sie durchgeführt wurde. In einem Versuch bekam eine Klasse in einer Grundschule eine zusätzliche Stunde Sport pro Woche, die andere Klasse eine zusätzliche Mathestunde. Am Ende des Versuchs waren die Kinder, die mehr Sport und weniger Mathe hatten sogar noch besser in Mathe!
Ich habe schon seit Jahren eine Vorstellung davon, wie Sportunterricht fair werden könnte, die Motivation steigern könnte und den Jugendlichen wirklich Freude an Bewegung mitgeben kann. Die Noten sollten meiner Meinung nach anhand von Mitarbeit und im Vergleich mit sich selbst vergeben werden. Dieses Modell gibt es in Schweden für alle Fächer, bei Tests wird verglichen, welche Fortschritte der Schüler gemacht hat. Sport ist in meinen Augen ein vollwertiges Schulfach, das auch Hausaufgaben geben kann. Zum Sport gehört auch Ernährung, dass die Jugendlichen lernen, wie sich Ernährung im Körper auswirkt, was übrigens auch einigen Essstörungen vorbeugen könnte, weil viele da „reinrutschen“ weil sie es einfach nicht besser wissen. Kinder und Jugendliche, Menschen ganz allgemein messen sich immer untereinander, es gibt einfach diesen Drang besser sein zu wollen. Davon sollte allerdings nicht die Bewertung abhängen. Wettkämpfe finden auch so ihren Platz im Schuljahr.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass man gerade im Sport sehr deutlich sieht, dass Einsatz und Übung zu Verbesserungen führt. Diese Erkenntnis können Kinder und Jugendliche auch für andere Lebensbereiche mitnehmen.
Ein junger Mensch, der am Anfang des Semesters vielleicht 1 Runde um die Turnhalle laufen konnte und sich dann schon fast übergeben musste vor Anstrengung kann so am Ende des Semesters vielleicht 3 Runden laufen ohne ein Sauerstoffzelt zu benötigen. Auch wenn andere Mitschüler problemlos 10 Runden laufen, für diese Person ist es ein gewaltiger Fortschritt. Diesen Fortschritten wird nach aktuellem Bewertungssystem im Sportunterricht absolut keine Bedeutung beigemessen. Entweder man kanns oder man kanns nicht.
Ich hoffe ich konnte meine Idee klar darlegen, evtl. verbreitet sie sich ja, wenn sie von den richtigen gelesen wird.
LG Martina